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ARD-Doku „Willy - Verrat am Kanzler" erzählt Geschichte aus weiblicher Perspektive

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Vor fünfzig Jahren, am 24. April 1974, wurde Günter Guillaume als DDR-Spion im Kanzleramt enttarnt. Am 6. Mai trat Willy Brandt als Bundeskanzler zurück. Warum sollte das heute noch interessant sein? Die Antwort der vierteiligen ARD-Mediathekendoku „Willy - Verrat am Kanzler" lautet: weil es sich um einen Skandal erster Güte handelt, der bislang unzureichend, weil aus Männersicht dargestellt wurde. Um eine Story mit Ingredienzien, die sich wahnsinnig gut für eine süffige „True Crime"-Schlapphut-Womanizer-Erpressungsdarstellung eignen. Weil dieser vertraulich „Willy" genannte SPD-Politiker in erster Linie ein charismatischer Mensch, nein: ein Mann, war.

Ein Mann, wie es ihn heute nicht mehr gibt

Ein Mann, wie es ihn heute nicht mehr gibt: Hoffnungsträger, Friedensbote, Visionär, seiner Zeit voraus. Angreifbar durch seine Vorstellung von Nähe und Freundschaft. Ein bisschen noch, so will es die Dokureihe, durch seine Ostpolitik. Zu beschäftigt, um die Ränkespiele hinter seinem Rücken auch nur wahrzunehmen. Und total spontan, was den Kniefall in Warschau anging. Einer, der in den Urlaub nicht nur seine Familie mitnahm, sondern auch seinen persönlichen Referenten Guillaume, über dessen Tisch alle Post ging. Im Übrigen hatte Willy Stress, zu viel Alkohol, zu viel Politik, zu wenig Schlaf, dann die Enttarnung des Spions, die Presse ist hinter ihm her, die „Parteifreunde" bekommen Zweifel, das war arg für Willy. Wer könnte ihm den Rücktritt verdenken?

Trivialer geht es nicht? Genau. Aber genau so ist der „Storytelling"-Aufbau, den „Willy" den Zuschauern anbietet. Filmemacher Jan Peter und Sandra Naumann, von denen auch die berüchtigt kriminellenaffine Serie „Lubi - Ein Polizist stürzt ab" stammt, haben erklärtermaßen ein Faible für zeitgeschichtliche Vermittlung. Mit dem Talent sieht das anders aus. Die Absicht ist jedenfalls löblich, sie besteht darin, „Geschichte für ein heutiges Publikum erfahrbar zu machen". Was in ihrer Sicht eine bestimmte Herangehensweise und Perspektive erfordert: die Orientierung „an dem großen, emotionalen Getriebensein der Handelnden". Geschichte als Emotionen großer Figuren, das ist, wissenschaftlich gesehen, ein uralter, zerbeulter Hut. Eine überholte Herangehensweise, die zurzeit in Geschichtspodcasts und Mediatheken-History-Formen fröhliche Urständ feiert. Gefühle gehen immer. Was sie in zeithistorischer Betrachtung nicht weniger unterkomplex und unzuverlässig macht.

Trailer„Willy - Verrat am Kanzler"

Und, was hat er gefühlt?

Was hat er gefühlt? Um Willy Brandts Emotionslage nahezukommen, bedient sich „Willy - Verrat am Kanzler" neben tausendundeinem zerschnippselten Ar­chivbild einer quasiauktorialen Erzähldarstellung. Sie ist aufgesplittert in zahlreiche Frauenstimmen. Multiperspektivität entsteht trotzdem nicht. Ausschließlich Frauen, Bestseller-Autorinnen, Podcasterinnen, Journalistinnen, Historikerinnen, eine Ex-Spionin, eine „Vertraute", eine prominente Wahlkampfhelferin von 1972 und nur eine politische Gegnerin, die ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Roswitha Verhülsdonk, erzählen den Skandal, der hier eigentlich ein BRD-Geheimdienst- und SPD-Dolchstoßskandal ist, aus „Frauenperspektive", wie es heißt.

Das ist ja eigentlich eine schöne Idee, geeignet, um der Objektifizierung von Frauen als „schmückendes Beiwerk" in der Bonner Republik, nicht zuletzt in der Presse, Paroli zu bieten. Nur stimmt der Befund, dass Frauen politisch rein gar nichts zu sagen hatten, nicht. Wer Substantielles über die Politikerinnen der Bonner Repu­blik und ihren Durchsetzungskampf erfahren will, kann sich mit Torsten Körners Dokumentarfilm „Die Unbeugsamen" (2021) bestens informieren.

Bekennender Willy Brandt-Fan: die Sängerin Katja Ebstein.ARD

Hier dagegen gibt es nur Zerstreuung: Günter Guillaume und Christel Guillaume - deren bislang unterbeleuchtete Spioninnenrolle in „Willy" betont werden soll - schwadronieren ungehemmt in DDR-Aufnahmen vom Friedensbringen durch Spionage, auf kritische Einordnung wird verzichtet. Daneben schwärmen viele der Expertenfrauen über die Maßen von ihrem Gegenstand. Von Katja Ebstein (Wahlkampfhelferin 1972) über Eva-Maria Lemke (Host des Podcasts „Dark Matters") bis zur Journalistin Yasmine M'Barek sind sie schwer beeindruckt. Heli Ihlefeld, die ehemalige „Vertraute" Brandts, setzt auseinander, was Sex unter Freunden von einer Affäre unterscheidet; Historikerinnen und Professorinnen betonen die Singularität dieses Mannes.

Fernsehgeschichtlich sind immerhin einige Perlen im Bildschnippselfluss zu finden, so die erste Studio-Liveschalte nach Moskau 1969. Musikalisch Gereimtes über schlimme Freunde rundet die Emotionspräsentation ab, die von RBB, SWR, NDR und WDR verantwortet wird. Tja, der Willy, das war schon einer. Übrigens war er der Einzige, der kompromisslos gegen den Mauerbau 1961 war, jedenfalls erzählt frau sich so was. Leider hat ihm sein Gewissen, haben ihm die Frauengeschichten den Garaus gemacht. Sonst noch was?

Willy - Verrat am Kanzler steht von heute an in der ARD-Mediathek zur Verfügung (vier Teile). Die neunzigminütige Fernsehfassung läuft am 6. Mai um 22.50 Uhr im Ersten

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