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Deutsches Schulbarometer: Gewalttätige Schüler, ausgebrannte Lehrer - „Momentaufnahme eines kranken Systems" - WELT

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Eines ist Bildungsexperten eigentlich bewusst: Das ständige Klagen über schlechte Schulleistungen, überlastete Lehrkräfte und die allgemeine Bildungsmisere führt nicht dazu, jungen Menschen den Lehrerberuf schmackhaft zu machen. „Das öffentliche Sprechen über solche Daten macht den Beruf für Außenstehende nicht unbedingt attraktiv", sagt die Psychologin Uta Klusmann vom Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik in Kiel. Das Verschweigen unangenehmer Wahrheiten allerdings führt auch nicht weiter.

Und so ist auch die jüngste Ausgabe des Deutschen Schulbarometers der Robert-Bosch-Stiftung, an dem Klusmann maßgeblich mitgeschrieben hat, ein Dokument der Depression: Personalmangel, verhaltensauffällige Schüler, Gewalt und emotionale Erschöpfung beherrschen für immer mehr Lehrkräfte den Schulalltag. Da kann beinahe schon überraschen, dass am Ende dann doch 75 Prozent der 1608 von Forsa befragten Lehrkräfte angeben, mit ihrem Beruf an sich zufrieden zu sein.

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Das wirke wie ein Paradox, müsse sich aber nicht unbedingt widersprechen, sagt Klusmann: „Die Lehrkräfte mögen die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und engagieren sich auch. Gleichzeitig sind sie erschöpft, weil sie chronisch im Stress sind." Im Vergleich mit anderen OECD-Staaten seien die Zufriedenheitswerte in Deutschland zudem eher niedrig, heißt es in der Studie; besagte OECD-Erhebung ist von 2018. Mehr als ein Viertel der Befragten würden sogar den Schuldienst verlassen, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten.

Quelle: Infografik WELT

Was konkret zeigt der „Blick in den Maschinenraum des deutschen Bildungssystems", wie Dagmar Wolf, Leiterin des Bereichs Bildung der Robert Bosch Stiftung, es nennt? Die befragten Lehrkräfte sehen die größten Herausforderungen derzeit im Verhalten der Schüler (35 Prozent); außerdem nannte mehr als ein Drittel den Umgang mit heterogenen Klassen, in denen die Kinder und Jugendlichen sehr unterschiedliche kulturelle und familiäre Hintergründe sowie Lernbiografien und unter Umständen auch besondere Förderbedarfe haben (33 Prozent; an Grundschulen: 45 Prozent). Mehrfachnennungen waren möglich.

Auf die Frage nach dem dringendsten Handlungsbedarf an der eigenen Schule wird die Behebung des Personalmangels (41 Prozent, Grundschulen: 51 Prozent), dicht gefolgt von Investitionen in marode Schulgebäude und in die technische und digitale Ausstattung (35 Prozent) genannt.

Körperliche und psychische Gewalt unter Schülern

Was laut der Erhebung besonders schwer wiegt: Gewalt spielt im Schulalltag eine immer größere Rolle. Fast jede zweite Lehrkraft (47 Prozent) sieht an der eigenen Schule ein Problem mit psychischer oder physischer Gewalt unter Schülern. Die Angaben seien als „besorgniserregend hoch" einzuschätzen, heißt es dazu in der Studie. Bereits an Grundschulen berichten 45 Prozent der befragten Lehrkräfte über Gewaltprobleme, an Haupt-, Real- und Gesamtschulen sind es 62 Prozent sowie an Gymnasien immerhin 33 Prozent.

Besonders von Gewalt betroffen sind demnach Schulen in sozial benachteiligten Lagen mit 69 Prozent. „Gerade in diesen Schulen entfällt sehr viel Unterrichtszeit auf das Lösen dieser Probleme", sagt Wolf. Das wiederum gehe dann wiederum zulasten der Lernergebnisse. „Gerade an diesen Schulen haben wir ja auch die größten Probleme mit den Basiskompetenzen."

Quelle: Infografik WELT

Das Gewaltthema bewege die Stiftung sehr. „Die Zahl ist sehr, sehr drastisch", so Wolf. „Hier haben wir ein Thema, das wir sorgsam beobachten müssen und bei dem wir als Gesellschaft dringenden Handlungsbedarf haben." Entsprechend gaben 68 Prozent der Lehrkräfte an, dass soziale Kompetenzen und Selbstkompetenzen die wichtigsten Fähigkeiten seien, die Schule vermitteln muss. Deutlich weniger nannten die Vermittlung von Wissen und schulischen Kompetenzen (47 Prozent).

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Die Befragung der Lehrkräfte zeigt auch, dass Gewalt an der eigenen Schule das Burn-out- und Stressrisiko von Lehrkräften deutlich erhöht. Mehr als ein Drittel (36 Prozent) fühlt sich laut der Erhebung mehrmals pro Woche emotional erschöpft. Vor allem jüngere und weibliche Lehrkräfte sowie Grundschullehrer sind betroffen. „Besonders relevant erscheint, dass zwölf Prozent der Lehrkräfte angaben, dass sie täglich Symptome der Erschöpfung erleben", heißt es in der Studie weiter.

18 Prozent geben zudem an, dass sie mindestens einmal in der Woche befürchteten, dass die Arbeit sie emotional verhärte. Je jünger die Lehrkräfte, desto häufiger berichten sie von Erschöpfung und Zynismus.

„Wir haben noch viele zu viele Einzelkämpfer"

„Wir sehen in den Ergebnissen die Momentaufnahme eines kranken Systems", so Wolf. Lehrer müssten seit Langem die Folgen des massiven Personalmangels ausgleichen und immer neue Belastungen bewältigen. Das führt dazu, dass bereits Berufseinsteiger den Schuldienst gar nicht erst antreten oder schnell wieder verlassen wollen. „Die einen, weil sie dem Druck nicht standhalten, die anderen, weil sie immer wieder an Grenzen stoßen und den Kindern und Jugendlichen nicht so helfen können, wie sie es sich vorgestellt haben." Das berufliche Wohlbefinden werde in Zukunft enorm wichtig sein, um Lehrkräfte an den Schulen zu halten und den Beruf für junge Menschen attraktiver zu machen.

Denn die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen an sich, auch das zeigt die Studie, macht den Lehrkräften nach wie vor Freude. Die Beziehungsqualität zu den Schülern wird allgemein als sehr hoch eingeschätzt. 97 Prozent aller Lehrkräfte denken, dass sie von den Schülern respektiert würden. 88 Prozent glauben, dass sie als Vorbild angesehen würden, und immerhin 75 Prozent, dass die Schüler auch mit privaten Problemen zu ihnen kommen würden. Allerdings finden nur 57 Prozent, dass die vorhandenen psychosozialen Unterstützungsangebote an ihren Schulen ausreichend seien.

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Deutlichen Nachholbedarf gibt es offenbar auch bei der Zusammenarbeit im Kollegium. Ein Viertel der befragten Lehrkräfte gab an, in den vergangenen zwölf Monaten keinerlei Feedback für ihre Arbeit erhalten zu haben - weder von Schulleitung oder Kollegen, noch durch Schüler oder durch externe Testungen.

Helmut Klemm, Leiter der im vergangenen Jahr mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichneten Erlanger Eichendorffschule, bezeichnet das als „Katastrophe". „Wir haben noch viel zu viele Einzelkämpfer", sagt Klemm. „Wenn junge Kolleginnen und Kollegen an Schulen kommen, an denen es kein gutes Onboarding und keine Teamstrukturen gibt, wo man nicht Freud und Leid miteinander teilt, dann ist man häufig ziemlich allein mit seiner 8a in der 6. Stunde."

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Der Lehrberuf sei ein anstrengender, anspruchsvoller Beruf, der sich in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt habe. Es fehle aber immer noch an wichtigen Elementen, die in anderen sozialen Berufen gang und gäbe seien, so Klemm. „Wir haben keine Supervision, wir haben keine kollegiale Beratung, keine etablierten Teamstrukturen und Teamstunden. Das ist unsäglich."

Für das Deutsche Schulbarometer wurden 1608 Lehrkräfte allgemein- und berufsbildender Schulen in Deutschland zwischen dem 16. November und 3. Dezember 2023 vom Meinungsforschungsinstitut Forsa befragt. Die ermittelten Ergebnisse sind unter Berücksichtigung einer möglichen Fehlertoleranz von plus/minus drei Prozentpunkten repräsentativ.

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