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Die unterschätzte Diagnose: Warum ADHS bei rund 80% der Betroffenen unerkannt bleibt

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Stand: 17.04.2024, 17:11 Uhr

Von: Sabine Hamacher

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Rund 80 Prozent aller ADHS-Betroffenen werden nicht als solche erkannt. Das hat schwere Folgen für den Alltag und ihre Gesundheit, sagt die Ärztin und Expertin Astrid Neuy-Lobkowicz.

Frau Neuy-Lobkowicz, ADHS war früher bekannt unter der Bezeichnung „Zappelphilippsyndrom" - das zeigt, dass es in der verbreiteten Vorstellung eher um Jungen ging. Diese Annahme ist falsch?

Ja. Die Erkrankung ist relativ gleichmäßig auf die Geschlechter verteilt, das sehen wir im Erwachsenenalter. In der Kindheit entdecken wir jedoch drei betroffene Jungen, aber nur ein Mädchen - so ist das Verhältnis.

Mädchen zeigen häufig andere Symptome als Jungs. © iStock

Das liegt daran, dass die Jungen sich anders verhalten?

Die Jungs haben eher den hyperaktiven Typ der Erkrankung, sie sind laut, wild und ungestüm. Die Lehrerin weiß immer, ob ein solches Kind in der Klasse war oder nicht. Mädchen dagegen haben in diesem jungen Alter eher den unaufmerksamen Typ, der viel unauffälliger ist. Sie sind verträumt, langsam, umständlich, kommen nicht in die Gänge, lassen sich ganz leicht ablenken, sind aber auch schnell von Gefühlen überwältigt. Sie sitzen da wie mit Tarnkäppchen - man bemerkt sie nicht. Die Jungen hauen ihre Gefühle in die Welt, und die Mädchen fressen sie in sich hinein.

Was hat das für Folgen?

Betroffene Mädchen werden häufig Mobbingopfer, weil sie sich nicht so zur Wehr setzen und behaupten können wie andere. Sie brauchen viel zu lange, um zu reagieren. Diese Mädchen strengen sich unglaublich an, um nach außen nicht sichtbar zu machen, dass sie vergesslich, verbummelt und langsam sind. Sie erleben sich aber als sehr defizitär und sind voller Selbstzweifel. So bleiben sie leider oft auch unter ihren Möglichkeiten.

Dass verträumte, verpeilte Mädchen unter ADHS leiden könnten, ist eher unbekannt, oder?

Eigentlich nicht, darüber werden seit Jahren Bücher geschrieben. Aber in den Köpfen der Bevölkerung und auch der Ärzteschaft ist es noch nicht angekommen. Dabei ist das von großer Relevanz, denn wenn diese Mädchen unerkannt bleiben, haben sie im Erwachsenenalter eine hohe Disposition für Depressionen und Angstzustände, weil sie so empfindlich und verletzlich sind. Das Problem ist, das zeigen neue Studien: Mädchen werden im Schnitt vier Jahre später diagnostiziert als Jungen. AD(H)S ist extrem gut behandelbar, aber wenn das erst spät passiert, fällt es womöglich in die Zeit der Ausbildung, in der die Weichen für das ganze weitere Leben gestellt werden. Und wenn man in dieser Zeit scheitert, hat das massive Auswirkungen. In der Schule und der Struktur eines Elternhauses kommen sie meist noch gut zurecht, machen oft sogar ein gutes Abi. Aber wenn sie an der Uni oder in der Berufsausbildung sind, müssen sie sich selbst takten, selbst einkaufen, selbst saubermachen, sich selbst zurückmelden - das schaffen sie oft nicht. Und das versteht dann keiner. Aus den vielen Misserfolgen heraus entwickeln sie häufig noch andere psychische Probleme.

Kurz zur Klärung: Sie sprechen in Ihrem Buch immer von AD(H)S - warum das H in Klammern?

Eigentlich haben wir hier die falsche Nomenklatur. ADHS heißt Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom. Bei Mädchen tritt aber meist gar keine Hyperaktivität auf. Sie haben ein ADHS minus H, es müsste also ADS, Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, heißen; ADHS wäre dann eine Sonderform davon. Es gibt den unaufmerksamen Typ, auch als hypoaktiv bezeichnet, und den hyperaktiven Typ. Außerdem gibt es - vor allem im Erwachsenenalter - eine Mischform. Um es noch ein bisschen schwieriger zu machen: Das kann auch wechseln. Ich kann als Mädchen hypoaktiv sein, also unaufmerksam, und in der Pubertät dann hyperaktiv werden.

Ich übernehme jetzt Ihre Schreibweise, das klingt plausibel. Woher kommt AD(H)S?

AD(H)S ist eine genetische, neurobiologische Besonderheit, die mit dem Dopamin-Stoffwechsel zu tun hat - ein erbliches neurodiverses Syndrom. Man kommt damit zur Welt; es hat niemand Schuld daran, und es hat auch nichts mit der Kindheit zu tun. ADS, der unaufmerksame Typ, zeichnet sich aus durch hohe Ablenkbarkeit, Vergesslichkeit, Konzentrations- und Motivationsstörungen. Betroffene können oft nur auf den letzten Drücker Arbeiten anfangen und zu Ende bringen und sind oft zu langsam. Sie haben Probleme damit, sich zu organisieren, aufzuräumen und zu priorisieren. Sie sind auch oft auch sehr empfindlich, schnell verletzt und leiden unter raschen Stimmungswechseln. Wenn man das früh behandelt und die Eltern entsprechend unterstützt, ist es überhaupt kein Manko, denn die Kinder können lernen, gut damit umzugehen. Und vor allem bekommen sie eine Erklärung für ihr Anderssein und kommen dann eben nicht mit Selbstzweifeln und schlechtem Selbstwertgefühl im Erwachsenenalter an.

Wie lässt es sich diagnostizieren?

Es gibt keine Laboruntersuchungen oder bildgebenden Verfahren, die Symptomatik muss in aufwändigen Befragungen genau erfasst werden. Wenn zum Beispiel im Schulzeugnis steht, dass das Kind besser sein könnte, wenn es sich konzentrieren würde, oder dass es seine Materialien nicht immer dabei hat, sind das sehr deutliche Hinweise. Erstmals ist die Symptomatik von AD(H)S bei Erwachsenen vor 25 Jahren wissenschaftlich in Deutschland publiziert worden. Leider werden bisher nur 15 bis 20 Prozent der von ADHS Betroffenen diagnostiziert - gut 80 Prozent also nicht. Das ist eine eklatante Unterversorgung und muss dringend verändert werden. Es ist traurig, dass es so wenige Ärztinnen und Psychotherapeuten gibt, die sich mit AD(H)S auskennen. Eigentlich müssten jede Fachärztin und jeder Facharzt, jeder Psychotherapeut und jede Psychotherapeutin AD(H)S-Diagnostik und -Behandlung anbieten, denn es ist ein wichtiges und häufiges Krankheitsbild ihrer Gebietes.

Ärztin Astrid Neuy-Lobkowicz. © Privat

Bei der Diagnose spielen immer öfter die sozialen Medien eine Rolle.

Youtube und Tiktok können AD(H)S besser diagnostizieren als ein Psychiater. Der Algorithmus erkennt, wie die Nutzer springen, wie kurz sie irgendwo verweilen. Immer öfter erzählen mir Patienteninnen, dass ihnen bei Youtube AD(H)S-Videos eingespielt wurden. Sie sagen dann: „Da habe ich gewusst, das bin ich." Das ist doch absurd! Das ist ein offizielles Krankheitsbild, und Ärztinnen und Ärzte erkennen es schlechter als Youtube.

Wie äußert sich AD(H)S im Erwachsenenalter?

Die Menschen sind enorm ablenkbar, sie haben keine Filter. Jeder Reiz führt sofort dazu, dass sie gucken müssen, was da los ist. Dadurch sind sie zwar unheimlich kreativ, weil sie tausend Gedanken im Kopf haben und viel mehr wahrnehmen als andere Menschen. Es macht sie aber auch extrem sprunghaft und ablenkbar. Man hat als AD(H)S-ler ein anderes Stärken-und-Schwächen-Profil: Ganz schnell wahrnehmen, reagieren, überfokussieren, und dann wieder weg - darin sind sie gut. In langweiligen Alltagsroutinen, im organisatorischen Abarbeiten, sind sie sehr schlecht. Wenn sie etwas interessiert, können sie Berge versetzen. Aber dann geht nur noch der Hyperfokus, alles andere fällt unter den Tisch. Neurotypische, also „normale" Menschen, können priorisieren, Unwichtiges ausblenden und dann fokussiert bleiben. Das gelingt den AD(H)S-lern nicht. Als AD(H)S-ler hat man aber auch eine Art scharfgestellte Alarmanlage, ist immer im Hab-Acht-Modus, fühlt sich ganz schnell gekränkt oder verletzt, angegriffen, hat das Gefühl, zu kurz zu kommen. Betroffene erleben alles viel stärker und reagieren dann schnell über. Sie fühlen sich von Kritik vernichtet, wenn man auch nur sagt, du, gestern, das war nicht so gut. Sie können nicht planen oder auf ein Ziel hingerichtet arbeiten, sie können nicht die Konsequenz von Handlungen bedenken, sondern nur aus dem Moment heraus reagieren. Alles ist immer gleich wichtig.

Zu Person und Buch

Astrid Neuy-Lobkowicz ist Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie. Sie studierte Humanmedizin in Mainz und Heidelberg und ließ sich anschließend am Zentralinstitut für seelische Gesundheit an der Uniklinik Mannheim zur Fachärztin ausbilden. Seit 1988 hat sie eine eigene Praxis in Aschaffenburg und betreibt seit 2007 zusätzlich eine Privatpraxis in München mit Schwerpunkt AD(H)S bei Erwachsenen.

Sie hat zahlreiche Artikel und Bücher veröffentlicht und ist Dozentin für Fachärzt:innen und Psychotherapeut:innen. Das ADHS-Zentrum in München hat Neuy-Lobkowicz 2007 mitgegründet, sie ist Vorstandsmitglied des Bundesverbandes ADHS-Deutschland. In ihrem aktuellen Buch widmet sich Astrid Neuy-Lobkowicz dem weiblichen AD(H)S.

ADHS steht für Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom. Bei Mädchen tritt aber meist gar keine Hyperaktivität auf, deshalb schreibt Astrid Neuy-Lobkowicz in der Regel AD(H)S (siehe Interview). Bei AD(H)S handelt es sich um eine erbliche Entwicklungsstörung, die zeitlebens besteht. Die genetische neurobiologische Besonderheit, die mit dem Dopamin-Stoffwechsel zu tun hat, ist mit Medikamenten gut zu behandeln. sha Foto: privat

Drei Ihrer Kinder haben AD(H)S. Jungen oder Mädchen?

Ein Junge und zwei Mädchen. Ich habe fünf Kinder - drei haben es, zwei nicht. Spannend zu sehen ist, dass die beiden, die es nicht haben, von vornherein anders waren. Sie sind immer mit Schulranzen in die Schule gegangen, haben immer den Tennisschläger dabeigehabt, man musste nicht danach fragen.

Ihre Kinder können sich vermutlich glücklich schätzen, dass ihre Mutter eine Expertin ist. Was kann man im Umgang mit AD(H)S-Betroffenen alles falsch machen?

Das schlimmste ist, die Erkrankung zu übersehen. Zu denken, ach, die Mädchen, die haben einfach keinen Bock, sie sind faul und dumm - das ist ja auch eine große Kränkung für die Betroffenen. Wenn man ihnen erklärt, warum sie so sind, wie sie sind, können sie ein Selbstverständnis entwickeln und auch Akzeptanz. Man kann AD(H)S aber auch falsch behandeln, wenn man es erkannt hat.

Wie denn? Und wie behandelt man es richtig?

AD(H)S entsteht anders als alle anderen seelischen Erkrankungen nicht aufgrund eines Traumas oder falscher Erziehung, man kommt damit zur Welt. Das müssen auch die Psychiaterinnen und Psychotherapeuten endlich verstehen, denn oft werden endlose Therapien verordnet. Die richtige Behandlung ist aber erstmal nicht psychotherapeutisch. AD(H)S ist nicht heilbar, man behält seine Besonderheiten ein ganzes Leben. Es geht darum, mit diesen Besonderheiten einen guten Weg im Leben zu finden und ein glücklicher und erfolgreicher Mensch zu werden. Bei AD(H)S wird der Botenstoff Dopamin, der Motivation, Konzentration und Stimmungsstabilität reguliert, zu schnell abgebaut. Es handelt sich hier um einen neurobiologischen Dopaminmangel. Wir haben in unserem Gehirn Netzwerke der Aufmerksamkeit, der Konzentration, dafür müssen verschiedene Gehirnareale zusammengeschaltet werden. Wenn zu wenig Dopamin im Gehirn vorhanden ist, sind diese Netzwerke nicht funktional. Man muss dann durch Medikation das Dopamin erhöhen, dann sind sie besser miteinander verbunden. Die Behandlungsempfehlung der Leitlinie ist: Bei AD(H)S im Erwachsenenalter braucht es immer eine medikamentöse Behandlung. Jemand, der schlecht sieht, wird auch nicht in die Sehschule geschickt, sondern zum Optiker. Ein guter Teil der Patientinnen und Patienten braucht gar nichts anderes als diese Stimulanzien; andere brauchen noch Coaching oder Verhaltenstherapie, um zu lernen, wie sie ihren Tag organisieren oder ihre Gefühle besser kontrollieren.

Medikamentös heißt Ritalin?

Ritalin oder Dexamphetamin. Das sind eigentlich Aufputschmittel. Bei AD(H)S-lern bewirken sie aber, dass sie ruhiger, gelassener und klarer werden. Das ist bei ihnen eine eigentlich paradoxe Wirkung. Auch die Motivation wird deutlich besser. Man kann dann plötzlich Aufgaben anfangen und auch langweilig Dinge erledigen. Auch die emotionalen Überreaktionen werden gedämpft. Man ist dann nicht mehr dauernd gekränkt oder verletzt. Ich nenne das immer: klarer Kopf, dickeres Fell. Die Betroffenen erleben das oft wie ein Wunder, wenn sie zum ersten Mal im Leben ein Buch lesen oder aufräumen können.

Gilt auch für Kinder, dass immer eine medikamentöse Behandlung nötig ist?

Ja, unbedingt. Natürlich muss man eine umfangreiche Diagnostik machen, aber gerade Kinder profitieren sehr stark von einer Medikation. Das macht oft zwei Schulnoten aus, ohne dass sie mehr lernen müssen, einfach weil sie sich besser konzentrieren können. Und es ist für Kinder total wichtig, dass sie Erfolg haben und sie die Erfahrung machen können, dass sie lernen und auch ihr Wissen abrufen können. Wir würden aber natürlich auch Sport, Bewegung und Vereine empfehlen und die Eltern schulen, wie sie mit dem Problemverhalten der AD(H)S-Kinder umgehen.

Astrid Neuy-Lobkowicz: Weibliche AD(H)S. Wie Frauen mit AD(H)S erfolgreich, selbstbewusst und stabil leben können. Kösel 2024, 256 Seiten, 18 Euro. © Kösel Verlag

Sie sind selbst auch betroffen, haben das aber spät gemerkt. Wie sind Sie darauf gekommen?

Durch meine Kinder. Ich bin relativ gut durch die Schule gekommen und habe Medizin studiert. Dieses Studium ist stark getaktet, das war mein Glück. Meine erste Tochter war neurotypisch, also „normal", hatte nie Probleme. Dann kam mein Sohn, der war sehr stark betroffen. Da habe ich angefangen, mich mit AD(H)S zu beschäftigen. Mir ist klargeworden, der will mich nicht ärgern, der hat einfach ein Problem mit seiner Gefühlskontrolle. Das war für mich als Mutter eine große Entlastung. Das Verständnis für ihn hat mich auf die Idee gebracht: Habe ich das etwa auch? Mittlerweile habe ich über 25 Jahre Erfahrung, AD(H)S bei Erwachsenen ist jetzt mein Spezialgebiet. Es ist ein unglaublich dankbares Krankheitsbild, weil man Menschen so schnell helfen kann. Wenn man sie richtig diagnostiziert und behandelt, stehen sie oft auf wie Phönix aus der Asche. Und fragen dann oft: Warum erst jetzt? Nach der dritten Psychotherapie und der zweiten Klinik und Antidepressivum bekomme ich ein Medikament und kann jetzt mein Gehirn benutzen. Viele sind auch traurig über die verlorene Zeit und die verpassten Chancen.

Wie häufig kommt AD(H)S vor?

Etwa 3,5 bis 5 Prozent der Bevölkerung sind betroffen. Und mehr als 80 Prozent davon leiden noch unter zusätzlichen seelischen Erkrankungen. Je eher wir die Kinder entdecken, je weniger sie die Erfahrung des Scheiterns machen, desto besser kommen sie im Leben klar. Man könnte also sehr viel Leid verhindern, und das ist auch für die Gesellschaft ganz wichtig. Wir wissen, dass Betroffene ein großes Risiko haben für Arbeitslosigkeit, für Partnerschaftskonflikte, Ärger am Arbeitsplatz. Sie haben ein deutlich höheres Risiko für Depressionen und Angststörungen und auch für Sucht. Oft konsumieren sie Suchtmittel, um die AD(H)S-Symptome zu bewältigen. Sie nehmen Cannabis, um ruhig zu werden, trinken Alkohol, um runterzukommen, nehmen Speed, um klar zu denken. Dann fängt eine andere Spirale an. Und unsere Welt wird immer schneller, immer mehr Reize strömen auf uns ein - auch das ist für AD(H)S-ler ein Riesenproblem.

Steigt denn deren Zahl?

Das ist schwer zu sagen, denn wir haben ja keine Zahlen von früher. Aber AD(H)S gibt es deutlich häufiger in der Großstadt als auf dem Land, weil dort die Reizüberflutung größer ist. Und die Probleme verstärken sich, wenn man sich wenig bewegt. Das sind keine Ursachen für AD(H)S, aber sie verschlimmern die Symptome.

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