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Deniz Yücel: Dieses Versäumnis von Steinmeier wiegt schwerer als die Sache mit dem Döner - WELT

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Anfang der achtziger Jahre gab es in meiner südhessischen Heimatstadt Flörsheim am Main recht viele Gastarbeiter, die zumeist bei Opel in Rüsselsheim oder den Farbwerken in Frankfurt arbeiteten. Eine Dönerbude gab es nicht, aber den „Tag des ausländischen Mitbürgers", ausgerichtet von der katholischen Gemeinde und dem DGB-Ortskartell. Dabei war auch der linke türkische Arbeiterverein meiner Eltern, der zu diesem Anlass den vereinseigenen Dönergrill auspackte, den man sich vielleicht sogar, das weiß heute niemand mehr genau, eigens für diesen Festtag angeschafft hatte.

Für meine Eltern und die anderen, schon nicht mehr ganz neuen Flörsheimer aus der Türkei, Griechenland oder Jugoslawien war der am Wochenende gefeierte „Tag des ausländischen Mitbürgers" ein Tag der Anerkennung und des Austauschs. Und Völkerverständigung lief über den Magen, also (auch) über den Döner. So war das damals eben, und vierzig Jahre später gibt es keinen Grund, sich über die Unbeholfenheit der Beteiligten oder ihren guten Willen lustig zu machen, indem man nachträglich einen Multikulti-Kitsch anprangert.

Das ist auch deshalb unangemessen, weil die Entstehungsgeschichte des Döners gerade nicht für Multikulti steht, also nicht für die Vorstellung des freundlichen Miteinanders in sich geschlossener Kulturen, welche gar nicht so weit entfernt ist von der neurechten Ideologie des „Ethnopluralismus". Nein, der Döner ist ein Bastard, er entstand, wie fast alle Kultur, aus dem „Mischmasch einander bekämpfender und befruchtender kultureller Produkte", wie es Alan Posener gerade bei WELT formulierte.

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Schon 1996 schrieb der Journalist Eberhard Seidel die Kulturgeschichte des Döners auf („Aufgespießt - Wie der Döner über die Deutschen kam"); über den Weg des Döners von einer kulinarischen Spezialität zum Fast-Food-Gericht, über hochwertigen Döner, billige Hackfleischpampe und das Berliner Döner-Reinheitsgebot vom Juni 1989, über Aufsteiger und die Abgründe der ungehemmten Onkel-Ökonomie - und die Erfahrung vieler Ostdeutscher, für die im Herbst desselben Jahres der Westen nach Knoblauch mit scharf schmeckte.

All das ist hübsch. Aber es ist Geschichte. Etwas anderes ist es, wenn sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei seinem Besuch in der Türkei nicht nur von einem Berliner Döner-Unternehmer begleiten lässt, sondern auch einen 60-Kilogramm-Dönerspieß im Gepäck hat, bei dem er, wie am Montag geschehen, bei einem Empfang an der deutsch-türkischen Kulturakademie Tarabya selber zum Dönermesser greift.

Im Jahr 2024 in Istanbul einen „Tag des ausländischen Mitbürgers" zu zelebrieren, wäre auch dann aus der Zeit gefallen, wenn deutsche Medien und Polizisten angesichts einer Mordserie an türkischen Einzelhändlern nicht das Wort „Dönermorde" erfunden hätten und die assoziative Verknüpfung von Türken und Döner nicht ein für allemal seine Unschuld verloren hätte.

Dass Steinmeier nicht nur Döner dabei hatte, sondern sich vom Hannoveraner Oberbürgermeister Belit Onay, dem DHL-Manager Mustafa Tonguç oder dem Schriftsteller Dinçer Güçyeter begleiten ließ, verblasste hinter der Döner-Symbolik. Oder sagen wir so: Der Döner hat Eingang in die deutsche Küche gefunden, der Begriff „fremdschämen" in den türkischen Wortschatz. Integration ist keine Einbahnstraße.

Treffen mit Orhan Pamuk

Allerdings war nicht alles an Steinmeiers Türkei-Besuch so versemmelt wie das Bild vom Bundespräsidenten am Dönerspieß. Zum Auftakt am Montag traf er den Istanbuler Oberbürgermeister und inoffiziellen Oppositionsführer Ekrem Imamoglu, zum Abschluss war am Mittwochnachmittag ein Treffen mit dessen Parteifreund Özgür Özel geplant, dem neuen Vorsitzenden der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP. Dazwischen sprach Steinmeier mit Menschenrechtlern, Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk und anderen, die für eine andere Türkei stehen.

Eine Geste. Aber eine wichtige. Denn Erdogans Zeit neigt sich dem Ende entgegen. Doch ob die Post-Erdogan-Türkei ein demokratischeres, freiheitlicheres Land wird und zurück in die westliche Welt findet, ist keine ausgemachte Sache.

Diese Entscheidung wird weder in Berlin noch in Washington getroffen, sondern zwischen Istanbul und Diyarbakir, zwischen Ankara und Trabzon. Doch der Westen, vor allem Europa und ganz besonders Deutschland, müssen schon heute ihren Beitrag dazu leisten, die Türkei zurückzugewinnen. Partner zu bleiben, ohne sich zum Komplizen des Erdogan-Regimes zu machen - das ist eine Aufgabe, die sich ungleich leichter formulieren als meistern lässt. Und für die es ein prominentes Beispiel gibt, wie man es nicht machen sollte: Angela Merkel.

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Nachdem sie jahrelang die Türkei ignoriert hatte, reiste Merkel im Zuge des Flüchtlingsdeals plötzlich so oft in die Türkei, dass es für den deutschen Steuerzahler billiger gekommen wäre, wenn sich die Kanzlerin in Ankara eine Zeitwohnung gemietet hätte. Im Gepäck hatte sie keinen Dönerspieß, sondern das Versprechen auf Visumsfreiheit.

Mit ihrer aus Panik vor weiteren Migranten getriebenen Türkei-Politik, der Art und Weise, wie sie sich von Erdogan im Wahlkampf instrumentalisieren ließ, während sie die Opposition ignorierte, mit dem letztlich nie erfüllten Versprechen auf Visumsfreiheit - mit alledem hat Deutschland viel Glaubwürdigkeit verspielt. Steinmeiers Besuch war - jenseits der peinlichen Döner-Nummer - ein Versuch, dieses Terrain zurückzugewinnen.

Damit knüpfte Steinmeier, sofern dieses Wort angesichts einer Unterbrechung von siebeneinhalb Jahren angebracht ist, dort an, wo er bei seinem letzten Türkei-Besuch im November 2016 als Außenminister aufgehört hatte. Damals traf sich Steinmeier nicht nur zu frostigen Gesprächen mit der türkischen Regierung, sondern auch mit Vertretern der parlamentarischen Opposition, der CHP, ebenso wie mit der prokurdischen HDP. Zwei Tage vor seiner Ankara-Reise war bekanntgegeben worden, dass er Joachim Gauck als Bundespräsident folgen würde, zehn Tage davor waren der kurdische Oppositionspolitiker Selahattin Demirtas und weitere Abgeordnete und lokale Politiker der HDP verhaftet worden.

Anders als 2016 hat Steinmeier diesmal keine kurdischen Politiker getroffen - und das, obwohl Demirtas seither, trotz einschlägiger Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, eingesperrt ist, obwohl Erdogans rechtsradikale Bündnispartner fordern, die im April gewählten kurdischen Bürgermeister absetzen zu lassen und Erdogan mit einer Eskalation des Krieges mit der PKK liebäugelt.

Aggressive antiisraelische Stimmung

Die demokratisch gewählten Vertreter der Kurden zu ignorieren, ist nicht allein mit Blick auf die türkische Innenpolitik ein schweres Versäumnis. Seit dem Überfall der Hamas auf Israel und dem Krieg im Gazastreifen herrscht in weiten Teilen der türkischen Gesellschaft eine aggressive antiisraelische Stimmung, wovon auch Steinmeier einen Eindruck bekam. Fast überall, wo er in den vergangenen Tagen auftauchte, kam es zu propalästinensischen Protesten.

Nicht aber von den Kurden. Sie haben den islamistischen Terror in Gestalt des „Islamischen Staates" am eigenen Leib erlebt, den IS unter hohem Blutzoll niedergerungen, um hernach vom Westen wieder einmal verraten zu werden. Womöglich traf Steinmeier aus diplomatischer Rücksichtnahme keine Vertreter der Kurden. Ein Treffen wäre ein Zeichen gewesen, sie zu übergehen ist es ebenfalls. Nicht das einzige Versäumnis.

Auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit Erdogan, auf der dieser die „Verbrechen" der Israelis in Gaza anprangerte, wies der Bundespräsident zwar darauf hin, dass der Gaza-Krieg eine Folge des Überfalls der Hamas ist. Doch während Steinmeier in Sachen Hamas keine große Rücksicht auf türkische Befindlichkeit nahm, hielt er sich an anderer Stelle zurück: kein Wort zur Lage der Menschenrechte in der Türkei, zur anhaltenden Verfolgung von Kritikern, zu den politischen Gefangenen, die trotz Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte oder des türkischen Verfassungsgerichts nicht freigelassen werden. Eine vertane Gelegenheit, die ungleich schwerer wiegt als die Sache mit dem Döner.

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