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Mobilisierung in der Ukraine: Die hartnäckige Suche nach Soldaten

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Mehrere hunderttausend Soldaten müssen gefunden werden. Doch die Erfolgsbilanz ist bescheiden.

Der junge ukrainische Soldat blickt einer grässlichen Gestalt ins Gesicht: Deren Haut ist grau und verfault, aus ihrem halbgeöffneten Mund ragen furchterregende Reisszähne. Es handelt sich zwar nur um ein Plakat, doch jeder hier versteht die Symbolik: Es zeigt den Kampf der Armee gegen die russischen «Orks». So nannte J. R. R. Tolkien die bösartigen Monster in «Herr der Ringe» - heute bezeichnen die Ukrainer damit die Soldaten des Feindes.

Das Motiv prangt auf Plakatwänden in der ganzen Ukraine. Es soll die Leute dazu motivieren, sich der Armee anzuschliessen. «Kämpfe für die 3. Sturmbrigade» heisst es darauf. Diese Einheit investiert besonders viel in die Mobilisierung neuer Kräfte, die an der Front so dringend gebraucht werden. Laut der Armeeführung müssen mehrere hunderttausend Soldaten gefunden werden.

Die Ukrainer stehen russischen «Orks» gegenüber: Mit diesem Sujet macht die 3. Sturmbrigade Werbung für den Militärdienst.

Eigentlich obliegt die Mobilisierung von Soldaten den regionalen Rekrutierungsämtern, doch diese geniessen kein Vertrauen. Sie gelten als korrupt und willkürlich. Die Zeiten, in denen Freiwillige vor den Ämtern Schlange standen, sind längst vorbei. So haben es nun zahlreiche Brigaden selber in die Hand genommen, Ukrainerinnen und Ukrainer für den Kriegsdienst anzuwerben.

Die 3. Sturmbrigade hat am Stadtrand von Kiew ein eigenes Rekrutierungszentrum eingerichtet. Es befindet sich auf einem weitläufigen Industriegelände, das seine besten Zeiten längst hinter sich hat. Im Erdgeschoss eines heruntergekommenen Hauses befindet sich jener Ort, an dem die militärische Laufbahn der neuen Soldaten ihren Anfang nehmen soll.

Mobilisieren mit Social Media

Mitten in dem kahlen Raum steht der Schreibtisch von Rusin, der sich lediglich mit seinem Kampfnamen vorstellt. Der Mann mit wildem Bart und schmaler Brille leitet das Zentrum. Er bestreitet, dass sich kaum mehr Freiwillige finden liessen: «Es gibt viele, die sich uns anschliessen wollen. Aber wir wollen natürlich noch mehr.» Tatsächlich wartet an diesem Montagmorgen ein gutes Dutzend Männer und Frauen auf den Vorstellungstermin bei Rusin und seinen Kollegen. Einige tragen bereits eine Militäruniform - diese müssen sie selber mitbringen.

Rusin (links) leitet das Rekrutierungszentrum der 3. Sturmbrigade in Kiew.

Die 3. Sturmbrigade habe eben eine besondere Anziehungskraft, sagt Rusin überzeugt. «Wir sind die effektivste, leistungsfähigste und motivierteste Brigade. Und wir haben eine hochentwickelte Medienstrategie.» Die Einheit hat wahrlich eine kaum zu übersehende Präsenz in den sozialen Netzwerken: Auf Youtube, Telegram und Instagram erreicht sie mit heroischen Videos vom Schlachtfeld und von einer Talkshow ein Millionenpublikum.

Auch Jehor Kotschnew und Weronika Adamowska haben sich von diesem Auftritt beeindrucken lassen. «Diese Brigade ist einfach anders. Sie zieht jene an, die wirklich motiviert sind», sagt Kotschnew, während er auf sein Vorstellungsgespräch wartet. Der 20-Jährige wäre eigentlich erst in fünf Jahren stellungspflichtig. Vertragssoldat kann man aber schon mit 18 Jahren werden. Auch die gleichaltrige Adamowska müsste als Frau nicht dienen - doch sie möchte unbedingt: «Ich wollte schon mit 18 kämpfen. Doch da hätte ich noch die Erlaubnis meiner Eltern gebraucht. Meine Mutter hätte das nicht zugelassen.»

Weronika Adamowska und Jehor Kotschnew, beide 20-jährig, warten auf ihr Vorstellungsgespräch. Sie wollen bei der Infanterie eine Offizierslaufbahn einschlagen.

Kotschnew und Adamowska haben ihre Ausrüstung für die nun beginnende Ausbildung bereits mitgebracht. Auch die Militäruniformen mussten sie sich selber kaufen.

Eine Woche den Krieg testen

Dass junge Leute wie Kotschnew und Adamowska derart motiviert sind, ist eher die Ausnahme. Das Durchschnittsalter an der Front liegt bei über 40 Jahren. Um neue Kräfte anzuziehen, lassen viele ukrainische Brigaden nichts unversucht und schalten etwa Stelleninserate für freie Positionen auf Online-Portalen. Die 3. Sturmbrigade hat sich ausserdem ein Novum einfallen lassen: Sie bietet eine Testwoche an, in der Interessierte Armee-Luft schnuppern können - ohne sich in irgendeiner Form zu verpflichten.

Der 23-jährige Iwan, der seinen Nachnamen nicht nennen will, hat die Testwoche eben abgeschlossen. In den letzten zwei Jahren habe er sich als Freiwilliger beim Wiederaufbau engagiert, erzählt er. «Jetzt denke ich, dass es Zeit ist, tiefer zu gehen. Ich will meinem Land nützlich sein.» Die Woche habe ihn überzeugt, sagt der Mathematik-Doktorand. An die vorderste Front wolle er nicht, aber vielleicht könne er bei der Artillerie sein Wissen einsetzen. «Zuerst muss ich an der Uni noch einige Sachen erledigen. Aber in ein paar Monaten rücke ich ein.»

Der 23-jährige Iwan (links) hat sich nach einer Schnupperwoche für den Kriegsdienst entschieden.

Diese vier jungen Männer haben in der Testwoche die besten Resultate erzielt. Zur Belohnung dürfen sie nun mit einem Luftgewehr auf eine Wasserflasche feuern.

Das Programm, das Iwan in den letzten sieben Tagen absolviert hat, beinhaltet Sporttests, Erste-Hilfe-Kurse und taktische Ausbildung. Auf dem Gelände gibt es auch Schützengräben, wo die Kandidaten mit Holz-Kalaschnikows das Gefecht üben. Scharf geschossen wird nicht - mit einer Ausnahme. Jene vier Männer, die in der Testwoche die beste Leistung gezeigt haben, dürfen draussen im Regen mit einem Luftgewehr auf eine Wasserflasche schiessen. Sie scheinen Spass zu haben - und doch wirkt das alles reichlich improvisiert.

Der Staat setzt auf Charme

Mit Sicherheit tragen die Bemühungen der 3. Sturmbrigade dazu bei, den Personalmangel etwas zu entschärfen. Doch letztlich sind sie nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Um die Personalprobleme an der Front zu lösen, müsste entweder ein Ruck durch die kriegsmüde Gesellschaft gehen - oder die Politik müsste weitreichende Massnahmen erlassen. Letzteres ist kürzlich geschehen. Ob die neuen Mobilisierungsgesetze zum gewünschten Erfolg führen, ist aber höchst fraglich. Auch sie setzen eher auf Freiwilligkeit denn auf Zwang.

Das Verweigern des Kriegsdienstes ist in der Ukraine eher die Norm als die Ausnahme. Seit einiger Zeit schicken die Rekrutierungsbehörden in ihrer Verzweiflung Beamte auf die Strasse, die junge Männer abpassen und ihnen Stellungsbefehle überreichen - was nur dann funktioniert, wenn diese ihre verfassungsgemässen Rechte nicht kennen. Längst gibt es Telegram-Gruppen und Organisationen, welche über die bestmöglichen Wege zur Umgehung der Mobilisierung aufklären.

Mit ihrem teilweise groben und aggressiven Vorgehen haben die Rekrutierungsbehörden ihrem ohnehin schlechten Ruf weiter geschadet. Doch mittlerweile scheint auch der Staat erkannt zu haben, dass alles Mahnen und Drohen nicht zum Ziel führt. Vielmehr wird nun versucht, auf mehr Augenhöhe und Charme zu setzen.

Olena Skiba und Tetjana Tusenkowa sind Teil dieser Bemühungen. Sie arbeiten in einem neuen Rekrutierungszentrum, das Mitte März in Saporischja eröffnet wurde. Es ist das dritte seiner Art, insgesamt sollen bis Mitte des Jahres 27 dieser Zentren eröffnet werden. Der Begriff «Zentrum» ist allerdings eine Übertreibung: Die beiden freundlichen Frauen in olivgrünen Pullovern sitzen an zwei Schreibtischen gegenüber dem Schalter der Stadtverwaltung, der einen deutlich grösseren Ansturm verzeichnet.

Olena Skiba (links) und Tetjana Tusenkowa sollen im Rekrutierungszentrum von Saporischja Leute für den Kriegsdienst gewinnen.

Der grosse Ansturm auf das «Zentrum» ist bisher ausgeblieben. An diesem Vormittag kommen immerhin sieben Interessenten vorbei.

«Sie werden schon noch kommen»

Skiba hat deshalb genügend Zeit, das Konzept des Zentrums zu erklären. «Wir beraten jene, die sich für die Armee interessieren, und versuchen, den besten Platz für sie zu finden», sagt sie. «Die Leute sollen ohne Angst zu uns kommen können.» Niemand müsse sich verpflichten oder registrieren, alles sei unverbindlich. Das Ganze entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Um den Leuten die Angst vor dem Rekrutierungsamt zu nehmen, wurde ein neues Amt geschaffen.

Im Wesentlichen wird hier kopiert, was viele Brigaden längst vormachen. Skiba hat eine Liste von offenen Stellen, die ihr von Brigaden im ganzen Land gemeldet werden. Findet sie einen passenden Kandidaten, setzt die Brigade ein Empfehlungsschreiben auf, mit dem dieser zur Rekrutierungsbehörde gehen kann. So weiss er im Vorhinein, wo er platziert wird, und entgeht einer willkürlichen Einteilung.

Dabei würden sich die allermeisten für rückwärtige Positionen interessieren, erklärt Skiba: Fahrer, Sanitäter oder IT-Experte. Die 46-Jährige, die selber ein Jahr lang in der Armee gedient hat, gesteht jedoch ein: «Die allermeisten Stellen auf meiner Liste sind an der Front.» Für diese lebensgefährlichen Funktionen ist das Interesse deutlich tiefer. Zudem liege das Durchschnittsalter jener, die sich bei ihr meldeten, weit über 40 Jahren.

An diesem Vormittag finden lediglich sieben Personen den Weg ins Rekrutierungszentrum von Saporischja. Der grosse Ansturm ist bisher ausgeblieben. «Sie werden schon noch kommen», sagt Skiba gutgläubig. «Wir haben ja erst gerade aufgemacht. Vielleicht wissen viele noch gar nicht, dass es uns gibt.» Doch auch ihr dürfte klar sein, dass die allermeisten, die wirklich kämpfen wollen, sich längst dem Kampf angeschlossen haben. Der Rest hofft, dass es auch ohne sie geht. Die massiven Personalprobleme der Armee lassen sich so kaum lösen.

Alltag in Kiew: In der Grossstadt ist es für Kriegsdienstverweigerer relativ einfach, in der Masse abzutauchen.

Mitarbeit: Kostjantin Karnosa, Marina Moisejenko.

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