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Habeck hat den Atomkraft-Ausstieg wieder am Hals

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Die Vorwürfe sind heftig: Inmitten der schweren Energiekrise 2022 sollen die Ministerien der Grünen-Politiker Habeck und Lemke die Öffentlichkeit getäuscht haben. Der Atomausstieg sei wider besseres Wissen forciert worden. Beide Häuser wehren sich vehement, doch beendet ist der Streit damit nicht.

Die Aufregung ist denkbar groß. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und Bundesumweltministerin Steffi Lemke sollen im Frühjahr 2022 hauseigene Experten ignoriert und die Öffentlichkeit getäuscht haben. Ihr angebliches Ziel: den geplanten Atomausstieg um jeden Preis durchzusetzen. Erhoben wird der Vorwurf vom Magazin "Cicero", das Einsicht in interne Unterlagen erklagt hat. Das Bundeswirtschaftsministerium weist den Bericht als "nicht zutreffend" zurück, die Darstellung der Abläufe sei "verkürzt und ohne Kontext". Dennoch: Auf Antrag der CDU soll Habeck am morgigen Freitag in einer Sondersitzung des Ausschusses für Klimaschutz und Energie befragt werden. Die Union sieht die Frage des Wiedereinstiegs in die Atomkraft zurück auf der Tagesordnung.

Worum geht es? Am 24. Februar 2022 beginnt die großangelegte Invasion Russlands in die Ukraine. Die weitere Versorgung Deutschlands mit Gas und Öl aus Russland steht infrage. Auch wenn es noch bis zum Sommer dauern wird, bis Russland die Lieferung von Gas erst reduziert und dann - unter Vorwänden - ganz einstellt. Die Bundesregierung aber ist schon länger alarmiert. Die von der Vorgängerregierung an die russischen Staatsfirmen Gazprom und Rosneft verkauften Gasspeicher sind - bis dato weitgehend unbemerkt - leergelaufen. Schon in den Wochen vor dem russischen Überfall hat die Bundesregierung diskret eine Taskforce eingerichtet, die die deutsche Energieversorgung für den möglichen Wegfall russischer Energieträger wappnen soll. Pläne für solch ein Szenario hatte die frisch angetretene Ampelkoalition in Ministerien und Kanzleramt nicht vorgefunden.

Wie weiter ohne russisches Gas?

Schon 2011 hatte die schwarz-gelbe Bundesregierung beschlossen, dass mit der Atomenergie Ende 2022 endgültig Schluss sein soll in Deutschland. Die letzten drei Meiler sollen daher ausgerechnet in dem Jahr vom Netz gehen, als der russische Überfall die gesamte Energieversorgung gefährdet. Ende 2021 waren bereits die Meiler Grohnde, Grundremmingen C und Brokdorf abgeschaltet worden. Bleiben im ersten Jahr des Ukrainekriegs noch Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2. Letztere beiden stehen im Süden Deutschlands, wo es viel Industrie gibt, aber kaum Anschluss an die Windkraft aus dem Norden der Republik.

Das für Reaktorsicherheit zuständige Bundesumweltministerium und das Bundeswirtschaftsministerium prüfen daher Notwendigkeit und Umsetzbarkeit einer Laufzeitverlängerung dieser drei Meiler. Beide Häuser sind da erst seit wenigen Wochen in grüner Hand. Wie üblich, sind nicht nur die Minister Robert Habeck und Steffi Lemke Mitglied der Anti-Atomkraft-Partei, sondern auch die von ihnen installierten Staatssekretäre.

Die gemeinsame Einschätzung beider Häuser fällt schnell und eindeutig aus: Am 8. März sprechen sich beide Minister dagegen aus, allen Unsicherheiten zum Trotz die Atomkraftwerke über den Jahreswechseln hinaus in Betrieb zu lassen. Sie verweisen zur Begründung auf Erklärungen der AKW-Betreiber PreussenElektra und RWE, wonach ein Weiterbetrieb schwierig sei sowie auf die eigenen Fachleute. Es geht um die Sicherheit der länger nicht gründlich geprüften Reaktoren, aber auch um die Höhe des möglichen AKW-Beitrags zur Energiesicherheit. Habeck schätzt sie eher gering ein. Die Grünen werden diese Position noch monatelang verteidigen, am Ende vergeblich.

Wurde Widerspruch unterdrückt?

In den Unterlagen, die der "Cicero" erst nach langwierigem Rechtsstreit einsehen durfte, findet sich ein Vermerk, der so gar nicht zur Selbstdarstellung einer unvoreingenommenen Abwägung zu passen scheint: "Eine Laufzeitverlängerung der Kernenergie bis zum 31.3.2023 sollte als Vorsorgemaßnahme weiter geprüft werden, weil sie den Erdgasverbrauch im Stromsektor auf ein Minimum reduzieren kann." Der Fachreferent beschreibt in seinem Vermerk die großen Unsicherheiten, ob bis zum Winter ausreichend Gas zur Gesamtversorgung eingespeichert werden könne. Eine verlängerte Laufzeit der Atomkraftwerke könnte demnach Abhilfe schaffen.

Datiert ist das Schreiben auf den 3. März. Habeck soll es nie zu Gesicht bekommen haben, weil sein später wegen Vetternwirtschaft geschasster Staatssekretär Patrick Graichen eine Laufzeitverlängerung von vornherein abgelehnt habe - aus ideologischen Gründen, wie der "Cicero" vermutet. Beleg: Ein gemeinsamer Prüfvermerk von Graichen und Lemkes Staatssekretär Stefan Tidow vom 4. März, der viele Argumente gegen eine Laufzeitverlängerung aufführt. Die Argumentation des Fachreferenten vom Vortag findet sich darin nicht wieder.

Ein weiteres Indiz betrifft ebenfalls den zwischen Tidow und Graichen hin und her gesendeten Prüfvermerk. Der Abteilungsleiter für Nukleare Sicherheit und Strahlenschutz im Umweltministerium, Gerrit Niehaus, hatte in einer E-Mail an Tidow "grob falsche" Darstellung in dem Prüfvermerk von Graichen angeprangert. Er habe versucht, das Schlimmste zu verhindern und Aussagen, die er nicht mittragen könne, abgeschwächt. Für den "Cicero" ein weiterer Beleg einer Manipulation: "Die Fachleute im Ministerium fanden kaum Gehör, und ihre Einschätzungen wurden ignoriert oder verfälscht", schreibt das Magazin.

Ministerien wehren sich entschieden

Beide Ministerien wehren sich entschieden und veröffentlichen die umstrittenen Vermerke ebenfalls: So erklärt das Umweltministerium, dass Niehaus' Änderungen ja Eingang gefunden hätten in die finale Version des Prüfvermerks, wie er Habeck und Lemke und schließlich auch der Öffentlichkeit am 8. März vorgelegt wurde. Graichen habe seinen Entwurf "genau zum Zweck der fachlichen Korrektur übermittelt", was das Umweltministerium getan habe. "Mangels Anfragen vor der Berichterstattung hatten wir keine Gelegenheit, etwaige medienseitige Missverständnisse zu verhindern", prangert Lemkes Ministerium ein journalistisch unsauberes Vorgehen des "Cicero" an.

Bleibt aber, dass die erste Fassung von Graichen erkennbar in nur eine Richtung argumentierte - und dabei auch blieb. Dessen ehemaliges Ministerium sieht ebenfalls keinen Beleg dafür, dass hauseigene Experten zugunsten einer politisch erwünschten Außendarstellung übergangen worden seien. Die Stellungnahme der Fachabteilung vom 3. März sei schlicht überholt gewesen durch die Kontakte der Leitungsebene zu den Kraftwerksbetreibern, welche auf diverse Schwierigkeiten einer Laufzeitverlängerung hingewiesen hätten.

Die Laufzeitverlängerung kommt trotzdem

Dass nach langem politischen Streit doch noch eine Laufzeitverlängerung bis zum 15. April 2023 verfügt wird, ist der bis zum Sommer verschärften Lage geschuldet: Der russische Gashahn ist tatsächlich abgedreht. Die französischen Atomkraftwerke kämpfen mit technischen Problemen und fehlendem Kühlwasser. Die Versorgung der deutschen Kohle-Meiler ist wegen des historisch niedrigen Rhein-Pegels gefährdet. Die Schreckensszenarien, die der vermeintlich überholte Vermerk vom 3. März anspricht, treten ein. Und auch die AKW-Betreiber finden zu einer neuen, optimistischeren Einschätzung eines möglichen Streckbetriebs über den Jahreswechsel hinaus. Habecks Ministerium veranlasste einen erneuten Stresstest.

Das Atomkraft-Aus zum Jahreswechsel, wofür sämtliche Grüne einen ganzen Frühling lang unverdrossen argumentiert haben, lässt sich nicht länger halten. Auch noch so geringe Beiträge der letzten deutschen Meiler sind nun dringend willkommen. Schließlich fügt sich Habeck ohne große Gegenwehr der Entscheidung von Bundeskanzler Olaf Scholz für eine Laufzeitverlängerung. Zusammen mit der Anti-Atomkraft-Ikone Jürgen Trittin macht Habeck den eigenen Leuten auf dem Bundesparteitag in Bonn klar, dass es auf 14 Wochen mehr Laufzeit nicht ankomme. Die Grünen-Basis verzichtet auf einen Aufstand und Deutschland kommt sicher, aber immens teuer durch seinen ersten Winter ohne Gas aus Putins Reich.

Einseitige Darstellung

Dennoch macht der Vorgang erkennbar, dass es in Habecks Haus von Anfang an politische Vorbehalte gegen eine Laufzeitverlängerung gegeben hat. In einer volatilen Lage machte es sich die Ministeriumsleitung nicht zur primären Aufgabe, gegenläufige Argumente zur eigenen Position kundzutun. Das tat ja schon die politische Konkurrenz; auch die im eigenen Regierungsbündnis: die FDP. Bis heute bleibt der Nutzen der letzten deutschen Atomkraftwerke umstritten. Die Grünen haben sich im Zweifel fürs Risiko entschieden, aus welchen Gründen auch immer.

Dass eine Ministeriumsleitung politische Entscheidungen entlang der eigenen Parteifarben durchsetzt, ist üblich. Insofern dokumentiert der "Cicero", was wenig überraschend ist, Politiker aber dennoch ungern veröffentlicht sehen. Zumal Habeck immer wieder für sich - und auch für Graichen - reklamiert, dass beide in der Energiekrise alles andere als die reine Lehre praktiziert hätten: Der Reservebetrieb für eigentlich ausgelaufene Kohlekraftwerke und der eiligst organisierte Import von Flüssiggas (LNG) samt improvisiertem Zubau neuer LNG-Häfen waren ja keine grünen Herzensprojekte.

Eine kaum zu ignorierende Debatte

Und damit in die Gegenwart: CDU-Klimapolitiker Andreas Jung fordert eine umfassende Aufklärung der Vorwürfe durch Habeck. "Der alte Verdacht erhärtet sich: Beim Kernkraft-Aus wurden Parlament und Bevölkerung belogen", schreibt Thorsten Frei, parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion, auf X. CSU-Generalsekretär Martin Huber sagt dem "Focus": "Robert Habeck hat das Land beim AKW-Aus getäuscht. Entweder hat er gelogen oder sein eigenes Ideologie-Ministerium nicht im Griff."

CDU-Politiker Michael Grosse-Brömer sagt demselben Blatt: "Es braucht jetzt zeitnah eine unabhängige Prüfung darüber, inwieweit die verbliebenen Kernkraftwerke wieder ans Netz gebracht werden können." Die Union will vor den anstehenden Europa- und Landtagswahlen sowie vor den Bundestagswahlen im kommenden Jahr - die womöglich auch früher kommen - wieder eine Atomkraftdebatte führen.

Lemke und Habeck werden das nicht ignorieren können und womöglich weitere Akten zur internen Kommunikation und Entscheidungsfindung auf den Tisch legen müssen. Die Fruchtbarkeit dieser Debatte wird sich zeigen müssen. Momentan können sich Regierung und Opposition ja nicht einmal darauf verständigen, ob die Energieversorgung derzeit stabil und die Preise fallend sind - oder das blanke Gegenteil der Fall ist.

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